BR - Annabel Pitcher - Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims




 Titel: Meine Schwester lebt auf dem Kaminsims
 Reihe: -
 Autor: Annabel Pitcher
 Genre: Roman
 Verlag: Goldmann
 Seitenzahl: 220 Seiten
 Preis: 8,99€








Den Sommer finde ich ein bisschen zu hell. Und zu fröhlich. Wenn die Blumen im Wind tanzen und die Vögel singen, kommt mir das immer vor als ob die Natur eine Riesenparty feiert. Den Herbst finde ich besser. Da ist alles trübe, und ich fühle mich nicht so ausgeschlossen von all dem Spaß um mich herum.

Jamie war fünf, als seine ältere Schwester Rose bei einem terroristischen Anschlag ums Leben kam. Inzwischen ist er zehn und während er sich kaum noch an Rose erinnert, lebt sein Vater so sehr in der Vergangenheit, dass er bei jeder Geburtstagsfeier ein Stück Kuchen neben Roses Urne auf dem Kaminsims stellt. Jamies Mutter hat die Familie vor kurzem für einen Mann aus ihrer Trauergruppe verlassen, sein Vater ist Alkoholiker und trauert noch immer so sehr um seine tote Tochter, dass er darüber völlig vergisst, dass er noch zwei lebende Kinder hat. Jamie und Jas kümmern sich also um sich selbst und umeinander, wo ihr Vater es nicht kann. Als Jamie Sunya, ein muslimisches Mädchen, in der neuen Schule kennen lernt, hat er gleich die Stimme seines Vaters im Ohr: Muslime haben deine Schwester getötet! Doch schon bald wiegt die Freundschaft zu Sunya mehr als die Worte seines Vaters - und stellt alles auf den Kopf.

Verlust und Trauer sind Themen, die fast jeder von uns auf die ein oder andere Art schon einmal kennen gelernt hat. Und jeder geht damit anders um. Die einen brechen völlig zusammen, andere funktionieren einfach weiter, weil ihnen das Halt gibt. Einig sind wir uns aber wohl darüber, dass es kein Patentrezept gibt, wie man mit Trauer umgehen soll. Und genau deshalb hat mich dieses Buch so gereizt.
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht von Jamie, eines zehnjährigen Jungen, der gerade mit seinem Vater und seiner älteren Schwester Jasmine aus London in eine Kleinstadt gezogen ist. Eigentlich soll es ein Neuanfang sein und doch geht alles genauso weiter wie zuvor in London, nur mittlerweile ohne ihre Mutter, die die Familie kürzlich verlassen hat. Der Vater trinkt und ergeht sich in Erinnerungen an Rose, während Jasmine sich um Jamie und sich selbst kümmert - und um ihren betrunkenen Vater, wenn der mal wieder in seinem eigenen Erbrochenen liegt. Das ganze erzeugt eine zutiefst bedrückende Atmosphäre, die auch dadurch nicht besser wird, dass Jamie es wirklich nicht leicht als der Neue in der Schule hat. Erst seine Freundschaft zu Sunya lockert das ganze endlich ein bisschen auf und macht es liebenswert.
Wie bei einem zehnjährigen Erzähler zu erwarten, gibt es keine hochgradig reflektierten Überlegungen zu den Dingen, die geschehen. Jamie begreift, dass etwas Schlimmes mit Rose passiert ist, aber er versteht das Aufhebens auch Jahre danach nicht, weil er sich selbst fast nicht mehr an seine Schwester erinnern kann. Er bekommt zum Geburtstag ein Spiderman Shirt von seiner Mutter per Post zugeschickt und schwört sich es so lange zu tragen, bis sie ihn darin gesehen hat, um sie stolz zu machen. Er versucht einen Streit mit Sunya mit einem Schokoriegel zu befrieden. Jamie ist einfach ein hochgradig liebenswerter Protagonist, auch wenn man ihn manchmal an den Schultern nehmen und in die richtige Richtung schubsen möchte. Trotz all der Schwierigkeiten in seiner Familie ist er nicht völlig in sich gekehrt und verschüchtert, sondern trägt es irgendwie. Es ist das einzige was er kennt. Es ist einfach schön mitzuerleben, welche charakterliche Entwicklung Jamie auf diesen nur 220 Seiten durchmacht, wie er erwachsener wird und durch Sunya lernt, dass nicht alles Gold wert ist, was Erwachsene sagen, erst recht nicht im Hinblick auf generalisierte Vorurteile. Gleichzeitig verliert seine Familie nie an Bedeutung für ihn, obwohl seine Mutter ihn verlassen hat und obwohl sein Vater seit fünf Jahren eine Urne voller Asche mehr zu lieben scheint als ihn.
Annabel Pitcher holt dann gerade zum Ende mit einer emotionalen Keule aus - und hat mich damit richtig getroffen. Das Ende bewegt, berührt und lässt einen einfach weinen, wenn man sich darauf einlassen kann.

Eine nicht ganz einfache, aber wunderschön erzählte Geschichte über Verlust, Trauer, Freundschaft, Vorurteile und wieder gefundenen Familienzusammenhalt. Davon gibt es einfach rundum verdiente fünf Blümchen von mir!


Aussehen: ♥♥♥♥♥
 Charaktere: ♥♥♥♥
 Spannung: ♥♥♥♥
 Schlüssigkeit: ♥♥♥♥
 Emotionale Tiefe: ♥♥♥♥♥
 Schreibstil: ♥♥♥♥♥




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