Titel: Winterfeldtstraße 2. Stock
Reihe: -
Autor: Johanna Friedrich
Genre: Historischer Roman
Verlag: List
Seitenzahl: 412 Seiten
Preis: 19,99€
"Aber denk doch mal nach… Findest du nicht auch, dass man Dinge sieht, ohne sie wirklich zu sehen? Dass einen die eigene Wahrnehmung ständig täuscht und belügt? Dass man nur das sieht, was man sehen will? Du siehst die Fassade, aber du siehst nicht dahinter, du siehst ein Auto, das fährt, aber nicht den, der es lenkt. Im Grunde siehst du nichts. Verstehst du, was ich meine?"
Das Leben in Berlin ist für die hochschwangere Charlotte alles andere als einfach, doch sie ist guter Dinge. Albert und sie werden schließlich Eltern und werden das ganze schon irgendwie hinbekommen. Doch dann kehrt Albert eines Tages nicht mehr nach Hause zurück. Seine Leiche wird samt seinem Auto in einem Straßengraben gefunden. Charlotte reißt es den Boden unter den Füßen weg. Alles was ihr von ihm bleibt ist seine Kamera.
Während sie noch damit kämpft, wie sie den so sinnlosen Tod ihres geliebten Mannes akzeptieren soll, muss sie auch an die Zukunft denken. Als Witwe, die bald ein kleines Kind erwartet, bekommt sie nirgendwo Arbeit. Doch auch in Zeiten der Teuerung muss Geld rein kommen. Es ist ihr Bruder Gustav, der ihr vorschlägt Untermieter aufzunehmen. Anfangs sträubt sie sich ihre Privatsphäre und die Erinnerung an Albert Fremden preis zu geben. Doch die Not zwingt sie schließlich neben Gustav den Langen, die quirlige Claire und den vornehm wirkenden Theo in ihrer Wohnung aufzunehmen. Diese ungewöhnliche Zweckgemeinschaft so grundlegend unterschiedlicher Menschen gibt ihr unerwartet viel, ermöglicht ihr sogar ihr Hobby, die Fotografie, wieder aufzunehmen. Manchmal allerdings ist es auch eine harte Zerreißprobe...
"Winterfeldtstraße 2. Stock" war eines der Bücher, die ich unbedingt haben wollte als sie raus kamen, dann aber doch erst dieses Jahr erstanden habe. Johanna Friedrich nimmt uns mit ins Berlin der 1920er Jahre. Der Krieg ist noch nicht allzu lange zu Ende und wer daran teilgenommen hat, wer die Schrecken erlebt hat, der hat noch immer daran zu knabbern. Der Rest der Stadt stürzt sich entweder kopfüber in das verrückte Nachtleben oder kämpft um seine Existenz. Die Inflation macht die einfachsten Lebensmittel praktisch stündlich teurer. Und mittendrin muss Charlotte nicht nur den Verlust ihres Mannes verwinden, sondern sich zusammenreißen: sie trägt sein Kind unter dem Herzen und muss es irgendwie durchbringen.
Es ist eine schwierige Zeit, die Johanna Friedrich meiner Meinung nach sehr gefühlvoll eingefangen hat, nicht nur durch die unterschiedlichen Charaktere, die sie in Charlottes Wohnung in der Winterfeldtstraße zusammen bringt. Da sich die Handlung über mehrere Jahre erstreckt, entwickeln sich Charlotte, Gustav, Claire, Theo und der Lange natürlich auch weiter. Hierin fand ich lag eine der großen Stärken des Buches. In den fortschreitenden 1920er Jahren wurden ja die gegensätzlichen politischen Strömungen immer deutlicher, wir wissen alle, dass die Nationalsozialisten auf dem Vormarsch waren und Deutschland unvermeidbar auf Hitlers Schreckensherrschaft zusteuerte. Auch in der Winterfeldtstraße fand sich dieser Konflikt wieder, nämlich in Theo, einem Juden, der sich kommunistischen Idealen nach russischem Vorbild verpflichtet fühlt, und dem Langen, der über einen Sportverein, in dem er endlich jemand ist, langsam aber sicher in die rechte Szene hinein wächst. Die ganze Zeit über hat man beim Lesen das Gefühl: das wird in einer Katastrophe enden. Das kann doch überhaupt nicht gut gehen. Als beide dann auch noch Interesse an Charlotte zeigen ist die Krux perfekt.
Was jetzt klingt wie ein klassisch-dramatisches Liebesdreieck ist doch mehr. Natürlich gibt es eine Liebesgeschichte und natürlich ist sie wichtig für Charlotte. Aber vor allen Dingen geht es auch darum, einen unbegreiflichen Verlust zu überwinden, weiter zu machen, wieder zurück ins Leben zu finden und als Frau auf eigenen Beinen zu stehen. Und darin hat Charlotte bewundernswerte Stärke bewiesen.
Für manch einen mag dieses Buch die ein oder andere Länge haben, aber wenn man sich auf die Atmosphäre des Berlins der 1920er Jahre und die gegensätzlichen Impulse dieser Zeit einlassen kann, dann ist "Winterfeldtstraße 2. Stock" absolut lesenswert. Mir hat es jedenfalls gut genug für fünf Blümchen gefallen!